Frieden mit den Eltern schließen

Das Kapitel "Eltern" ist wohl eines der schwierigsten Themen überhaupt.

 

Die meisten Eltern - davon ist auszugehen - wollten, dass ihre Kinder glücklich sind. So auch unsere Eltern. Aber wie funktioniert das in praktischer Umsetzung, das "glückliche-Kinder-machen", wenn die Eltern selbst nicht glücklich sind? Und gute Kindererziehung, gewaltfreie Kommunikation und Liebe lernt man oft nicht in der Schule, nur an Vorbildern. Und welche Vorbilder hatten unsere Eltern?

 

Die "treuen" Scheuklappen-Kinder

Viele Kinder, die keine glückliche Kindheit hatten, besaßen eine Strategie, die bis ins Erwachsenen-Alter vorhält. Diese Überlebens-Strategie hieß und heißt bis heute "verdrängen und verleugnen", weil so manche Ereignisse in der Kindheit so unerträglich waren, dass man sie einfach vergessen musste. Die schrecklichen Erlebnisse wurden abgespalten. Sie wurden in eine Kiste gesteckt, auf ewig fest versiegelt und in den tiefen Abgründen des Unbewussten versenkt. Die Menschen, die ihre schreckliche Kindheit verdrängen und verleugnen, sind heute noch immer sehr unglücklich in ihrem Leben - voller Anspannung, Nervosität und großer Selbstzweifel. Aber genau diejenigen sind es, die dann immer sehr bestimmt und vehement sagen: "Ich hatte eine glückliche Kindheit. Mir hat es an nichts gefehlt. Ich hatte alles, was ich mir wünschen konnte. Meine Eltern haben mich geliebt. Sie haben mich nicht geschlagen (etc.). Ich kann mich an nichts Schlechtes erinnern." Manchmal erzählen sie dann aber auch Sachen, die für sie ganz normal waren, bei denen sich bei anderen aber vor Schreck die Nackenhaare aufstellen würden, wenn sie es hörten. Es sind erwachsene Kinder, die ihre Eltern bis aufs Blut verteidigen und keinen Makel an sie kommen lassen. Was sehr ehrenwert und moralisch höchst löblich ist. Heißt es doch so schön in den 10 Geboten: "Du sollst Vater und Mutter ehren."

Ein Gebot fehlt in der Bibel allerdings, das elfte Gebot, das heißt: "Du sollst deine Kinder ehren."

Warum es wohl fehlt?

 

Die erwachsenen, wütenden, "untreuen", mit ihren Eltern verstrickten Kinder

Auf der anderen Seite - um nun alles schwarz-weiß auszumalen - gibt es die erwachsenen Kinder, die immer noch Probleme mit dem Verhalten ihrer Eltern haben, die daran verzweifeln und wahnsinnig werden vor Trauer und Wut und die ihre Eltern verfluchen und ihnen die größten Vorhaltungen machen. Kinder, die nicht frei sind, mit ihren Eltern auf ungesunde Art und Weise verstrickt sind und tiefgreifende, seelische Konflikte immer noch nicht gelöst haben.

 

Richtig ist: Um heil und ganz zu werden, sollte man alle Seiten betrachten, die Guten wie die Schlechten. 

 

Wofür können wir unseren Eltern dankbar sein?

Es gibt viel, wofür wir unseren Eltern dankbar sein können. Sie haben für uns ein "Nest" gebaut, haben sich für ein Leben mit uns entschieden, haben (Lebens-)Zeit und Geld in uns "investiert". Vielleicht oder ganz bestimmt haben sie auch so manch einen ihrer Träume für uns aufgegeben. Sie haben auf uns aufgepasst, uns gefüttert, gewärmt, eingekleidet, die Wäsche gewaschen und gebügelt, geputzt, eingekauft, gekocht, den Frühstückstisch gedeckt, Kuchen gebacken. Haben vielleicht mit uns gespielt, gebastelt. Haben uns eventuell Geschichten vorgelesen. Unseren Geburtstag und andere Feste mit uns gefeiert. Uns getröstet und verarztet. Hatten ein offenes Ohr für unsere Probleme (bei einer Depression eher unwahrscheinlich). Sind mit uns von Arzttermin zu Arzttermin gerannt, sind mit uns in Urlaub gefahren, ins Kino, Theater, in den Freizeitpark, zum Schwimmen gegangen, haben uns das Fahrrad fahren beigebracht, haben uns zur Schule geschickt, mit uns Hausaufgaben gemacht und unsere Ausbildung finanziert. Es kann nicht alles so schlimm gewesen sein, sonst hätten wir es wahrscheinlich nicht so lange bei unseren Eltern ausgehalten. Oder gab es keine bessere Alternative?

 

Die 2 Weltkriege

Natürlich müssen deine Eltern nicht alles das gemacht haben, was ich dort oben aufgelistet habe. Schon gar nicht, wenn du als Kriegs- oder Nachkriegskind jetzt diesen Text liest. Vielleicht schüttelst du gerade den Kopf. Viele Menschen wurden durch die zwei Weltkriege traumatisiert. Wohlstand gab es nicht. Die Väter waren nicht da, im Krieg verschollen oder gefallen und wenn sie nach dem Krieg zurückkehrten, waren sie durch die schrecklichen Ereignisse innerlich zerbrochen. Was war das für eine Kindheit?

 

Die Qualität von Beziehungen & Liebe als Pflichtgefühl

Und wenn du doch Eltern hattest, die viel für dich da waren und viel für dich getan haben, kommt es doch auch immer darauf an, wie sie es gemacht haben. Hat es ihnen Spaß gemacht, all dies zu tun? Oder war es mehr ein Pflichtprogramm, weil man das halt so macht als Vater und Mutter? "Du solltest deine Kinder lieb haben." Liebe als Pflichtgefühl.

 

Empfänger, Gestalter oder Pflichterfüller?

Konntest du deinen Eltern viel geben? Wurdest du einbezogen, gefordert, gebraucht in der Familie? Oder haben sie es nicht zugelassen? Wollten alles selber machen, um zu zeigen, was sie alles können und wie liebevoll sie doch sind? Warst du nur ein Empfänger? Und fühltest dich nutzlos, weil du deinen Eltern nichts geben konntest/durftest? Weil dir diese Rolle nicht zugedacht war? Damit sie sich selbst beim Nehmen nicht "schuldig" machen mussten? Und dir später Vorwürfe machen konnten, dass du nie etwas für sie getan hast und sich als bessere Menschen fühlen konnten?

Oder war das Gegenteil der Fall: Haben sie Aufgaben bei dir abgeladen, die sie eigentlich als Eltern selbst hätten erfüllen müssen und dich damit sehr belastet?

 

Die bösen, bösen Eltern und die "unschuldigen" Kinder

Und jetzt drehe ich das Ganze einmal um und frage: Waren wir Kinder zu unseren Eltern immer "nett"? Inwiefern waren wir "zum Kotzen" für unsere Eltern? Was mussten unsere Eltern ertragen?

Sie haben unsere Launen, unsere Bockigkeit, unser Geheul, Gejammer, Gequengel und Gebrüll, unser "wie-am-Spieß-schreien" (wenn wir etwas nicht wollten), unsere Sturheit und Uneinsichtigkeit, unsere Wehwehchen und Krankheiten ertragen.

Vielleicht haben wir unseren Eltern auch wehgetan. Nicht nur nervlich und mit hässlichen, unbewussten Bemerkungen, auch direkt physisch.

Haben sie getreten, gehauen, geboxt? Sie geohrfeigt? Ihnen in die Augen gestochen, weil die so schön funkelten? Sie mit unseren kleinen Fingern und Nägeln gekratzt? Irgendwelche Sachen, die ihnen etwas wert waren, einfach kaputt- oder dreckig gemacht?

Und unsere Eltern "mussten" uns trotzdem weiterhin lieb haben, obwohl wir solche "Kotzbrocken"

waren?

 

Musst du als erwachsenes Kind deinen Eltern dankbar sein?

 

Du kannst dankbar sein für all das, was sie für dich getan haben. Dankbarkeit tut gut. Dankbarkeit macht zufrieden. Dankbarkeit macht stark. Wer dankbar ist, sieht sich nicht als Opfer. Wer dankbar ist, kann verzeihen. Aber du musst dich nicht zwingen, dankbar zu sein. Wenn du dich für Vieles nicht dankbar fühlst (und du schuldvoll denkst: Oh mein Gott, ich müsste doch dankbar sein für...), das ist in Ordnung. Nein, du musst für gar nichts dankbar sein. Du hast es dir auch nicht ausgesucht, auf die Welt zu kommen. Die Entscheidung durftest du nicht fällen. Man hat dich einfach geboren und ins Leben geschmissen, und dann muss man sich auch - verdammt noch mal - um dich kümmern. Du hattest ein Recht darauf, dass man sich um dich kümmert. Sei "undankbar". Das ist in Ordnung.

 

Spür mal nach, warum du nicht dankbar bist. Was macht dich traurig? Was haben dir deine Eltern nicht gegeben? Wonach hast du dich gesehnt?

Ist in Ordnung. Eltern können einem nicht alles geben. Das ist "normal". Eltern sind Menschen, keine Götter. Nicht mehr und nicht weniger.

 

Worüber darfst du traurig und wütend sein? 

Du darfst traurig darüber sein, was sie dir alles nicht gegeben haben. Du darfst wütend sein.

Wütend über ihre Fehler. Über all das, was sie falsch gemacht haben. Über ihre Unfairness und ihr böses, ungerechtes, egoistisches, erpresserisches, missgünstiges Verhalten. Dass sie dir ihre eigene Meinung aufdrücken und dich nach ihren Vorstellungen formen wollten. Dass sie unmenschlichen Druck auf dich ausgeübt haben. Deinen Schmerz nicht gefühlt und gelindert haben. Dass sie dich und deine Gefühle übergangen haben. Weil deine Gefühle "nicht wichtig" oder "falsch" waren. Dass deine Eltern in bestimmten Augenblicken gleichgültig waren und zugeschaut haben, statt etwas zu unternehmen. Dass sie dich in einigen Situationen im Stich (hängen) gelassen, vielleicht sogar verraten haben. Dass sie dir nicht zugehört und dich nicht gesehen haben, dich nicht akzeptiert haben, genauso, wie du halt bist. Dass sie dir nichts zugetraut haben. "Ach, lass das lieber. Das machen wir lieber selbst. Das kannst du (noch) nicht." Dass sie dir beigebracht haben, du wärst ein schlechter Mensch. Dass du nicht genügst und an dir selbst zweifeln und dir und deinen Fähigkeiten nicht trauen solltest. Hatten Sie Angst vor deiner Stärke und haben dich deshalb immer wieder klein gemacht, weil sie Angst vor dir hatten? Angst davor selbst schwach (neben dir) zu sein? Und weil sie vielleicht Angst vor deiner Stärke hatten, haben sie bewusst deine Schwächen und Fehler gesucht und herausgekehrt? Dich verunsichert und immer wieder (subtil) versucht in deiner Persönlichkeit zu erschüttern, vielleicht sogar den Versuch unternommen, die Angst vor dir selbst zu schüren? Vielleicht haben sie dich immer wieder kritisiert und dich aufgezogen mit deinen Schwächen, dich gedemütigt, über dich gespottet? Dich ausgelacht, verhöhnt, sich über dich lustig gemacht, dich heruntergeputzt? Hast du öfter als Sandsack oder Fußabtreter gedient? Ja. Du darfst traurig und empört sein, zu Recht, über ihre hässlichen Sprüche, die dich verletzt und die dir sehr weh getan haben. 

 

Eltern als Geschwister 

(Manch einer oder eine, die diesen Abschnitt liest, wird sich jetzt sicher fragen:

Ist hier wirklich von "Eltern" die Rede? Ja, es gibt Eltern, die ihre Kinder ablehnen, über sie spotten, ihre Kinder klein und hässlich machen und ihnen immer wieder ihre Fehler unter die Nase reiben. Wahrscheinlich ist der Begriff "Eltern" hier unpassend. Diese "Eltern" benehmen sich eher wie ältere, konkurrierende, neidische "Geschwister". In ihren Augen sind ihre eigenen Kinder nicht mehr als Konkurrenten.)

 

 

Den Eltern verzeihen und Frieden mit ihnen schließen?

Du musst gar nichts. Du musst deinen Eltern nicht verzeihen, wenn sie dich mies behandelt haben. Du musst auch keinen Frieden mit ihnen schließen, wenn du es nicht möchtest. Wichtig ist aber, dass du glücklich bist.

 

Vorwürfe, Rachegefühle, Vergeltung

Ich glaube, viele erwachsene Kinder, die ihre Eltern nicht auf ein Podest stellen (wie diejenigen Scheuklappen-Kinder, die ihre Kindheit verdrängen), viele dieser wütenden Kinder machen ihren Eltern jetzt, wo sie erwachsen sind und alles "zu spät" (die Erziehung abgeschlossen) ist, immer wieder Vorwürfe.

Das klingt dann folgendermaßen: "Du hast dies nicht getan. Du hast das nicht getan. Du warst nicht da, als ich... Du bist ein schlechter Mensch. Wenn du so und so gewesen wärst, dann wäre aus mir ein glücklicherer, fröhlicherer, besserer, fähigerer Mensch geworden. Wenn ich andere Eltern gehabt hätte, dann..." 

 

Die Opferhaltung 

Mit dieser Haltung machst du dich selbst zum Opfer. Du denkst, du wirst in deinem Leben niemals mehr glücklich sein können, weil deine Eltern so viel an dir verbockt haben.

Aber das ist nicht wahr. Ja, deine Eltern haben viel Mist gebaut, und das musst du jetzt ausbaden.

Vielleicht geht es dir jetzt sehr schlecht und deine Eltern leben ein glückliches Leben, wie bisher?

Bei ihnen hat sich nichts geändert, nur deine Welt liegt in Scherben? Und sie sehen und verstehen es nicht, obwohl du es ihnen erklärt hast? Du bist wütend? Du gibst deinen Eltern die Schuld für deine Probleme im Leben? Du willst, dass sie sich bei dir entschuldigen? Du willst Rache? Du möchtest, dass sie für deinen Schmerz und Kummer büßen?

 

Die Wut auf sich selbst

Vielleicht bist du ja auch furchtbar wütend auf dich selbst. Weil du zugelassen hast, dass sie so mit dir umgehen und du nicht "STOPP" brüllen konntest. Weil du ihnen eine überwältigende Macht eingeräumt hast, bei der sie kontinuierlich deine Grenzen überschritten haben. Wie konntest du nur? Wie konntest du das nur zulassen?

 

Sich selbst verzeihen

Du kannst dir jetzt selbst sagen: "Ich verzeihe mir, dass ich es zugelassen habe, dass sie mich so mies behandelt haben. Ich verzeihe mir, dass ich es zugelassen habe, mich so schlecht behandeln zu lassen. Dass ich keine Grenzen gesetzt habe und fast alles hab mit mir machen lassen, und es auch selbst getan habe. Weil ich geliebt und umsorgt werden wollte. Und es nicht wahrhaben wollte. Weil ich abhängig war. Und weil es auch viele Dinge gab, die schön waren. Weil ich bei meinen Eltern Zuhause war? Weil ich mich auch irgendwie geborgen gefühlt habe? Weil ich dazugehören wollte? Wer beißt schon die Hand, die einen füttert?

Vielleicht habe ich viel an Selbstachtung aufgegeben, weil der Rest so schön war? Weil ich das nicht verlieren wollte? Die Zugehörigkeit und die Annehmlichkeiten? Und dass muss ich jetzt einfach einsehen? Dass ich auch Vorteile hatte mit meinem eigenen Verhalten in diesem Leben bei meinen Eltern?

 

Dienstleistung gegen Liebe - Ein Vertrag zwischen Eltern und Kindern

Offenbar rechtfertigt das alles. Weil mir meine Eltern in materieller Hinsicht alles gegeben (oder - um es derb auszudrücken - in den Arsch geblasen haben, ohne dass ich dafür als Prinz/Prinzessin oder Made im Speck einen Finger krümmen musste und ich mich hab von vorne und hinten bedienen lassen / weil ich überbehütet worden bin), haben sie das Recht, mich im Gegenzug dafür zu beschimpfen und schlecht zu behandeln!? Weil ich als Kind tief in ihrer Schuld stehe? Ein Arschloch oder Schwein bin? Weil ich für die ganzen Dienstleistungen, die ich bekommen habe, ihnen keine Liebe als Gegenleistung gegeben habe? Ihr tiefes "Loch" nicht gefüllt habe?

 

Ich wusste nicht, dass es einen Vertrag zwischen uns gibt, den ich als Kind zu erfüllen habe.

Aber es gibt ja auch den Spruch: "Nichts ist umsonst". Und in einer Beziehung muss man nehmen und vor allem auch geben (und zwar das Richtige geben, was der andere braucht), wenn sie gut funktionieren soll.

 

"Immer nur NEHMEN - NEHMEN - NEHMEN".

Ein Spruch, der von vielen enttäuschten, frustrierten Eltern geäußert wird, die doch alles gegeben haben und nie etwas für ihre Mühe zurückbekommen haben, vor allem keine Liebe. Denn nach der haben sie sich immer wie wahnsinnig verzehrt. Aber ihre Kinder konnten ihnen nicht genug Liebe geben. Es war nie genug. Du warst nie genug. (Als Kind wirst du ihnen niemals das zurückgeben können, was sie dir gegeben haben. Niemals.)

 

Ein eigenes Schuldeingeständnis?

Wahrscheinlich musst du dich bei ihnen entschuldigen, dass du die Erwartungen, die sie in dich gesetzt haben, nicht erfüllt hast. Dass du den Auftrag, den du von Geburt an hattest (der "Liebes-Loch-Füller"), nicht ausgeführt hast. Dass du ihnen so viel Arbeit und Mühe gemacht und nichts dafür zurückgegeben hast. Dass du - im Gegenteil - eine Belastung warst. Dass sie immer nur etwas in dich hineingesteckt und sich für dich abgestrampelt haben, aber nichts zurückgekommen ist. Eine einzige Enttäuschung.

 

                                             Du liebst uns nicht.

 

"Kind, wir wollen, dass du uns liebst. Gib uns Liebe. Bleib bei uns. Geh nicht weg. Hau ab! Komm uns nicht zu nah! Umarm uns. Wir verhungern. Wir sind verzweifelt. Geh weg. Du störst. Du nervst! Wir sind so unendlich traurig. Nimm uns unsere Traurigkeit. Nimm uns unseren Schmerz, unsere Verzweiflung, unseren Kummer. Du liebst deinen Vater, deine Mutter nicht genug. Wir spüren nicht, dass du uns liebst. Was hast du uns denn schon gegeben? Du solltest dich schämen."

 

Ja, euch lieben und trösten, aber wie geht das denn? Was braucht ihr denn? Was soll ich euch denn noch geben, als das, was ich euch gebe? Mehr als dies und das kann ich nicht machen oder zeigen. Ich versuch es ja. Aber ich hab keinen Plan...Ich weiß nicht, wie...Ich kann´s nicht erfüllen.

Und wenn ich euch küsse oder umarme, dann nur, weil ich vorher dafür etwas bekommen habe.

"Du liebst uns ja nur für das, was wir dir geben. Ohne Dienstleistung würdest du uns keine Liebe geben."

 

In der Zwickmühle

Wenn ich mich bedanke (indem ich euch umarme und küsse), dann ist es nicht richtig (siehe oben). Und wenn ich mich nicht auf diese Weise bedanke, ist es auch nicht richtig.

 

Schuldig - auf immer und ewig 

Ja, richtig. Ihr habt Recht. Eure Erwartungen sind richtig. Egal, was ich tue, es wird immer falsch sein. Ich bin falsch. Ich bin schlecht. Ich bin nicht liebenswert. Ich bin unmöglich. Ihr könnt´n Ei über mich schlagen. Und mich hassen, dafür, dass ich euch nicht das geben konnte, was ihr brauchtet. Und seitdem ihr wisst, dass ich euch nichts zu geben habe, bin ich sowieso nur noch geduldet in der Familie. Ich habe mich als Kind schuldig gemacht. Ich bin schuldig, in allen Punkten der Anklage. Ich kann und konnte eure Wünsche nicht erfüllen. Aber ich hab mir Mühe gegeben, um euch gerecht zu werden. Ich hab doch fast alles getan, was ihr wolltet. So viel Mühe hab ich mir für euch gegeben, aber ich glaube, das, was ich für euch getan habe, habt ihr gar nicht wirklich registriert. Weil es nicht das war, was ihr brauchtet.

 

Ein Schuldeingeständnis der Eltern?

Du brauchst keine Entschuldigung, kein Schuldeingeständnis deiner Eltern, dafür, dass sie dich - zu Recht (denn du bist ja ein schlechter Mensch) - mies behandelt haben und wütend auf dich waren, weil du ihre Wünsche nicht erfüllen konntest. Keine Einsicht.  Die würden sie ohnehin nicht zeigen, da sie deine heutigen Probleme gar nicht verstehen würden, wo du doch alles bekommen hast. Sie würden sich vielmehr gegen deine Vorwürfe verteidigen und "gegen dich mauern" und sagen, wie sehr sie dich unterstützt und geliebt und was sie dir alles gegeben und was sie alles für dich getan haben (was zu einem großen Prozentsatz ja auch richtig ist): "Wir wissen gar nicht, was du hast? Worüber beschwerst du dich eigentlich? Du hattest doch bei uns alles, was du dir wünschen konntest. Und wir waren immer für dich da."

 

Aber selbst, wenn sie alles das, was dir wichtig wäre zu hören, wirklich zugeben würden: "Ja, wir haben Fehler gemacht etc". Solche Eingeständnisse würden dir heute nichts mehr "bringen". Dadurch würden sich dein heutiges Leben und deine Probleme nicht im Mindesten ändern. Und es würde dir auch deinen Seelenfrieden nicht zurückbringen. 

 

Tiefe Traurigkeit 

Ich bin unendlich traurig. Traurig darüber, wie mein Leben verlaufen ist. Und ich bin unendlich traurig, dass meine Eltern so angespannt, nervös und tieftraurig sind und nichts an ihrer Situation ändern. Weil sie ihre Traurigkeit leugnen. Weil sie ihre Kindheit verdrängen. Weil sie Angst haben. Angst vor Veränderung. Angst vor der Wahrheit. Angst, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Angst davor, in ihren eigenen Abgrund zu schauen, zu fallen und vielleicht verschlungen und von Bildern und Gefühlen überwältigt zu werden. Angst vor ihrem Schmerz und vor ihrem Kummer. Und ich bin traurig, weil ich ihnen nicht helfen konnte und kann, ihre Situation zu ändern, weil nur sie selbst etwas ändern können. Nur, wenn die Not und der Leidensdruck groß genug sind, ändern Menschen sich. Und meine Eltern wollen sich nicht offenbaren. Sie wollen die Kiste in ihrem Inneren begraben lassen, sie wollen sie nicht öffnen, sich nicht aktiv mit ihrem Inhalt  auseinandersetzen. (Obwohl: die Kiste habe ich für sie gehoben. Und ich weiß und kann jetzt auch zu großen Teilen vermuten, was in dieser Kiste steckt).

 

"Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin..."

(Das Lied über die Lorelei. (Sänger, Richard Tauber 1939, Text von Heinrich Heine)

 

Umgang mit dem eigenen Leben

Aber meine Depression ist jetzt vorbei. Ich habe mich von meinen Eltern scheiden lassen. Und ich entscheide jetzt, wie ich mich fühle und wie ich mein eigenes, jetziges Leben bewerten und weiterleben möchte. Ich werde jetzt anfangen an mir zu arbeiten. Ich höre auf, mich gehen zu lassen. Ich höre auf, "bequem" zu sein, anstatt mein Leben aktiv nach meinen Wünschen zu gestalten. Ich werde jetzt an meinen Wünschen, Vorstellungen und Träumen arbeiten. Damit ich glücklich bin und mir das Leben erschaffe, dass ich mir wünsche.

 

Deine Depression

Vielleicht bedeutet Heilung, Glück und Gesundheit auch für dich, dass du dafür eine Therapie (eine Trauma-Aufstellung) machen, über deinen Schatten springen, deine Grenzen erweitern, viel Schmerzhaftes ertragen, in den eigenen Abgrund (und den deiner Bezugspersonen) schauen, bestimmte Dinge oder Verhaltensweisen aufgeben und ändern und dir deine Träume erarbeiten "musst".

Aber glaub mir: Irgendwann - in naher Zukunft - wirst du wieder lachen können.

 

Meine Depression

Ich - für meinen Teil und meine Lebensgeschichte (meine Depression) - weiß, dass meine Eltern von ihren Eltern nicht geliebt wurden. Daher das tiefe "Loch" (der Mangel an Selbstliebe), das sie versucht haben, über das Erkaufen von Liebe durch uns Kinder wieder zu füllen. Ein Versuch, der unmöglich war und scheitern musste. Oliver Driver schreibt in seinem Buch Selbstheilungspraxis - Der schamanische Weg, Schirner Verlag, 2010, Seite 185: "Die Liebe, von der ich spreche, ist nicht die egoistische Liebe, die wir zumeist erleben, bei der wir letztlich vom anderen gewisse Leistungen und Dinge erwarten und auch nur dann bereit sind, unsere Gegenleistung zu erbringen. Diese parasitäre Liebe ist ein Geschöpf des Ego (...). Die Hawaiianer sehen Liebe als etwas, was man tut, und nicht als etwas, was man empfindet. Das, was man tut, tut man gerne und ohne jede Berechnung, Liebe ist kein Tauschgeschäft.")

 

 

Ein langer Weg 

Es wird auch für dich vielleicht oder ganz bestimmt ein längerer Weg sein, hinaus aus der Depression (wodurch auch immer deine entstanden ist), aber es wird auch eine erkenntnisreiche, selbstbestimmte, eigenverantwortliche Reise sein mit dem Ziel, glücklich sein zu wollen.

 

Und wenn du glücklicher bist - von Tag zu Tag mehr - und deinen Zielen in kleinen Schritten näherkommst, dann wirst du zufriedener mit dir und deinem Leben sein. Wenn du zufrieden bist, entsteht wieder mehr Dankbarkeit in dir. Und dann wirst du auch irgendwann dir selbst und deinen Eltern verzeihen und sie in Frieden loslassen können.

 

Weil es dann nicht mehr wichtig ist, was sie getan oder nicht getan haben.