Vorwürfe, Rachegefühle, Vergeltung
Ich glaube, viele erwachsene Kinder, die ihre Eltern nicht auf ein Podest stellen (wie diejenigen Scheuklappen-Kinder, die ihre Kindheit verdrängen), viele dieser
wütenden Kinder machen ihren Eltern jetzt, wo sie erwachsen sind und alles "zu spät" (die Erziehung abgeschlossen) ist, immer wieder Vorwürfe.
Das klingt dann folgendermaßen: "Du hast dies nicht getan. Du hast das nicht getan. Du warst nicht da, als ich... Du bist ein schlechter Mensch. Wenn du so und so gewesen
wärst, dann wäre aus mir ein glücklicherer, fröhlicherer, besserer, fähigerer Mensch geworden. Wenn ich andere Eltern gehabt hätte, dann..."
Die Opferhaltung
Mit dieser Haltung machst du dich selbst zum Opfer. Du denkst, du wirst in deinem Leben niemals mehr glücklich sein können, weil deine Eltern so viel an dir verbockt haben.
Aber das ist nicht wahr. Ja, deine Eltern haben viel Mist gebaut, und das musst du jetzt ausbaden.
Vielleicht geht es dir jetzt sehr schlecht und deine Eltern leben ein glückliches Leben, wie bisher?
Bei ihnen hat sich nichts geändert, nur deine Welt liegt in Scherben? Und sie sehen und verstehen es nicht, obwohl du es ihnen erklärt hast? Du bist wütend? Du gibst deinen Eltern die
Schuld für deine Probleme im Leben? Du willst, dass sie sich bei dir entschuldigen? Du willst Rache? Du möchtest, dass sie für deinen Schmerz und
Kummer büßen?
Die Wut auf sich selbst
Vielleicht bist du ja auch furchtbar wütend auf dich selbst. Weil du zugelassen hast, dass sie so mit dir umgehen und du nicht "STOPP" brüllen
konntest. Weil du ihnen eine überwältigende Macht eingeräumt hast, bei der sie kontinuierlich deine Grenzen überschritten haben. Wie konntest du nur? Wie konntest du das nur
zulassen?
Sich selbst verzeihen
Du kannst dir jetzt selbst sagen: "Ich verzeihe mir, dass ich es zugelassen habe, dass sie mich so mies behandelt haben. Ich verzeihe mir, dass ich es
zugelassen habe, mich so schlecht behandeln zu lassen. Dass ich keine Grenzen gesetzt habe und fast alles hab mit mir machen lassen, und es auch selbst getan habe. Weil ich geliebt
und umsorgt werden wollte. Und es nicht wahrhaben wollte. Weil ich abhängig war. Und weil es auch viele Dinge gab, die schön waren. Weil ich bei meinen Eltern Zuhause
war? Weil ich mich auch irgendwie geborgen gefühlt habe? Weil ich dazugehören wollte? Wer beißt schon die Hand, die einen füttert?
Vielleicht habe ich viel an Selbstachtung aufgegeben, weil der Rest so schön war? Weil ich das nicht verlieren wollte? Die Zugehörigkeit und die Annehmlichkeiten? Und dass muss ich
jetzt einfach einsehen? Dass ich auch Vorteile hatte mit meinem eigenen Verhalten in diesem Leben bei meinen Eltern?
Dienstleistung gegen Liebe - Ein Vertrag zwischen Eltern und Kindern
Offenbar rechtfertigt das alles. Weil mir meine Eltern in materieller Hinsicht alles gegeben (oder - um es derb auszudrücken - in den Arsch geblasen haben, ohne dass ich dafür als
Prinz/Prinzessin oder Made im Speck einen Finger krümmen musste und ich mich hab von vorne und hinten bedienen lassen / weil ich überbehütet worden bin), haben sie das
Recht, mich im Gegenzug dafür zu beschimpfen und schlecht zu behandeln!? Weil ich als Kind tief in ihrer Schuld stehe? Ein Arschloch oder Schwein bin? Weil ich für die
ganzen Dienstleistungen, die ich bekommen habe, ihnen keine Liebe als Gegenleistung gegeben habe? Ihr tiefes "Loch" nicht gefüllt habe?
Ich wusste nicht, dass es einen Vertrag zwischen uns gibt, den ich als Kind zu erfüllen habe.
Aber es gibt ja auch den Spruch: "Nichts ist umsonst". Und in einer Beziehung muss man nehmen und vor allem auch geben (und zwar das Richtige geben, was der
andere braucht), wenn sie gut funktionieren soll.
"Immer nur NEHMEN - NEHMEN - NEHMEN".
Ein Spruch, der von vielen enttäuschten, frustrierten Eltern geäußert wird, die doch alles gegeben haben und nie etwas für ihre Mühe zurückbekommen haben, vor allem keine Liebe. Denn
nach der haben sie sich immer wie wahnsinnig verzehrt. Aber ihre Kinder konnten ihnen nicht genug Liebe geben. Es war nie genug. Du warst nie genug. (Als Kind wirst du ihnen
niemals das zurückgeben können, was sie dir gegeben haben. Niemals.)
Ein eigenes Schuldeingeständnis?
Wahrscheinlich musst du dich bei ihnen entschuldigen, dass du die Erwartungen, die sie in dich gesetzt haben, nicht erfüllt hast. Dass du den Auftrag,
den du von Geburt an hattest (der "Liebes-Loch-Füller"), nicht ausgeführt hast. Dass du ihnen so viel Arbeit und Mühe gemacht und nichts dafür zurückgegeben hast. Dass du - im
Gegenteil - eine Belastung warst. Dass sie immer nur etwas in dich hineingesteckt und sich für dich abgestrampelt haben, aber nichts zurückgekommen ist. Eine einzige
Enttäuschung.
Du
liebst uns nicht.
"Kind, wir wollen, dass du uns liebst. Gib uns Liebe. Bleib bei uns. Geh nicht weg. Hau ab! Komm uns nicht zu nah! Umarm uns. Wir verhungern. Wir sind
verzweifelt. Geh weg. Du störst. Du nervst! Wir sind so unendlich traurig. Nimm uns unsere Traurigkeit. Nimm uns unseren Schmerz, unsere Verzweiflung, unseren Kummer. Du liebst deinen
Vater, deine Mutter nicht genug. Wir spüren nicht, dass du uns liebst. Was hast du uns denn schon gegeben? Du solltest
dich schämen."
Ja, euch lieben und trösten, aber wie geht das denn? Was braucht ihr denn? Was soll ich euch denn noch geben, als das, was ich euch gebe? Mehr als
dies und das kann ich nicht machen oder zeigen. Ich versuch es ja. Aber ich hab keinen Plan...Ich weiß nicht, wie...Ich kann´s nicht erfüllen.
Und wenn ich euch küsse oder umarme, dann nur, weil ich vorher dafür etwas bekommen habe.
"Du liebst uns ja nur für das, was wir dir geben. Ohne Dienstleistung würdest du uns keine Liebe geben."
In der Zwickmühle
Wenn ich mich bedanke (indem ich euch umarme und küsse), dann ist es nicht richtig (siehe oben). Und wenn ich mich nicht auf diese Weise bedanke, ist es
auch nicht richtig.
Schuldig - auf immer und ewig
Ja, richtig. Ihr habt Recht. Eure Erwartungen sind richtig. Egal, was ich tue, es wird immer falsch sein. Ich bin falsch. Ich
bin schlecht. Ich bin nicht liebenswert. Ich bin unmöglich. Ihr könnt´n Ei über mich schlagen. Und mich hassen, dafür, dass ich euch nicht das geben konnte, was
ihr brauchtet. Und seitdem ihr wisst, dass ich euch nichts zu geben habe, bin ich sowieso nur noch geduldet in der Familie. Ich habe mich als Kind schuldig gemacht. Ich bin schuldig,
in allen Punkten der Anklage. Ich kann und konnte eure Wünsche nicht erfüllen. Aber ich hab mir Mühe gegeben, um euch gerecht zu werden. Ich hab doch fast alles getan,
was ihr wolltet. So viel Mühe hab ich mir für euch gegeben, aber ich glaube, das, was ich für euch getan habe, habt ihr gar nicht wirklich registriert. Weil es nicht das war, was
ihr brauchtet.
Ein Schuldeingeständnis der Eltern?
Du brauchst keine Entschuldigung, kein Schuldeingeständnis deiner Eltern, dafür, dass sie dich - zu Recht (denn du bist ja ein schlechter
Mensch) - mies behandelt haben und wütend auf dich waren, weil du ihre Wünsche nicht erfüllen konntest. Keine Einsicht. Die würden sie ohnehin
nicht zeigen, da sie deine heutigen Probleme gar nicht verstehen würden, wo du doch alles bekommen hast. Sie würden sich vielmehr gegen deine Vorwürfe verteidigen und "gegen
dich mauern" und sagen, wie sehr sie dich unterstützt und geliebt und was sie dir alles gegeben und was sie alles für dich getan haben (was zu einem großen Prozentsatz ja
auch richtig ist): "Wir wissen gar nicht, was du hast? Worüber beschwerst du dich eigentlich? Du hattest doch bei uns alles, was du dir wünschen konntest. Und wir waren immer für dich
da."
Aber selbst, wenn sie alles das, was dir wichtig wäre zu hören, wirklich zugeben würden: "Ja, wir haben Fehler gemacht etc". Solche Eingeständnisse würden dir heute
nichts mehr "bringen". Dadurch würden sich dein heutiges Leben und deine Probleme nicht im Mindesten ändern. Und es würde dir auch deinen Seelenfrieden
nicht zurückbringen.
Tiefe Traurigkeit
Ich bin unendlich traurig. Traurig darüber, wie mein Leben verlaufen ist. Und ich bin unendlich traurig, dass meine Eltern so angespannt, nervös und tieftraurig sind und
nichts an ihrer Situation ändern. Weil sie ihre Traurigkeit leugnen. Weil sie ihre Kindheit verdrängen. Weil sie Angst haben. Angst vor Veränderung. Angst vor der Wahrheit.
Angst, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Angst davor, in ihren eigenen Abgrund zu schauen, zu fallen und vielleicht verschlungen und von Bildern und Gefühlen
überwältigt zu werden. Angst vor ihrem Schmerz und vor ihrem Kummer. Und ich bin traurig, weil ich ihnen nicht helfen konnte und kann, ihre Situation zu ändern, weil nur sie
selbst etwas ändern können. Nur, wenn die Not und der Leidensdruck groß genug sind, ändern Menschen sich. Und meine Eltern wollen sich nicht offenbaren. Sie wollen die Kiste in
ihrem Inneren begraben lassen, sie wollen sie nicht öffnen, sich nicht aktiv mit ihrem Inhalt auseinandersetzen. (Obwohl: die Kiste habe ich für sie gehoben. Und ich weiß und
kann jetzt auch zu großen Teilen vermuten, was in dieser Kiste steckt).
"Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin..."
(Das Lied über die Lorelei. (Sänger, Richard Tauber 1939, Text von Heinrich Heine)
Umgang mit dem eigenen Leben
Aber meine Depression ist jetzt vorbei. Ich habe mich von meinen Eltern scheiden lassen. Und ich entscheide jetzt, wie ich mich fühle und wie ich mein
eigenes, jetziges Leben bewerten und weiterleben möchte. Ich werde jetzt anfangen an mir zu arbeiten. Ich höre auf, mich gehen zu lassen. Ich höre auf, "bequem" zu sein,
anstatt mein Leben aktiv nach meinen Wünschen zu gestalten. Ich werde jetzt an meinen Wünschen, Vorstellungen und Träumen arbeiten. Damit ich glücklich bin und mir das Leben
erschaffe, dass ich mir wünsche.
Deine Depression
Vielleicht bedeutet Heilung, Glück und Gesundheit auch für dich, dass du dafür eine Therapie (eine Trauma-Aufstellung) machen, über deinen Schatten
springen, deine Grenzen erweitern, viel Schmerzhaftes ertragen, in den eigenen Abgrund (und den deiner Bezugspersonen) schauen, bestimmte Dinge oder Verhaltensweisen aufgeben und
ändern und dir deine Träume erarbeiten "musst".
Aber glaub mir: Irgendwann - in naher Zukunft - wirst du wieder lachen können.
Meine Depression
Ich - für meinen Teil und meine Lebensgeschichte (meine Depression) - weiß, dass meine Eltern von ihren Eltern nicht geliebt wurden. Daher das
tiefe "Loch" (der Mangel an Selbstliebe), das sie versucht haben, über das Erkaufen von Liebe durch uns Kinder wieder zu füllen. Ein Versuch, der unmöglich war und
scheitern musste. Oliver Driver schreibt in seinem Buch Selbstheilungspraxis - Der schamanische Weg, Schirner Verlag, 2010, Seite 185: "Die Liebe, von der ich spreche, ist
nicht die egoistische Liebe, die wir zumeist erleben, bei der wir letztlich vom anderen gewisse Leistungen und Dinge erwarten und auch nur dann bereit sind, unsere Gegenleistung zu
erbringen. Diese parasitäre Liebe ist ein Geschöpf des Ego (...). Die Hawaiianer sehen Liebe als etwas, was man tut, und nicht als etwas, was man empfindet. Das, was man tut, tut man
gerne und ohne jede Berechnung, Liebe ist kein Tauschgeschäft.")
Ein langer Weg
Es wird auch für dich vielleicht oder ganz bestimmt ein längerer Weg sein, hinaus aus der Depression (wodurch auch immer deine entstanden ist), aber es wird
auch eine erkenntnisreiche, selbstbestimmte, eigenverantwortliche Reise sein mit dem Ziel, glücklich sein zu wollen.
Und wenn du glücklicher bist - von Tag zu Tag mehr - und deinen Zielen in kleinen Schritten näherkommst, dann wirst du zufriedener mit dir und deinem Leben sein. Wenn du zufrieden
bist, entsteht wieder mehr Dankbarkeit in dir. Und dann wirst du auch irgendwann dir selbst und deinen Eltern verzeihen und sie in Frieden loslassen können.
Weil es dann nicht mehr wichtig ist, was sie getan oder nicht getan haben.